"Es braucht einen langen Atem…" Bericht zum 5. Webinar „bRENNglas Corona-Krise“ zum Thema Luftschadstoffe
Im Online-Seminar "bRENNglas Corona-Krise" haben wir mit Expert*innen über das Thema Luftschadstoffe gesprochen. Im Nachbericht lesen Sie wichtige Eckpunkte der Veranstaltung. Zudem steht ein Mitschnitt als Video zur Verfügung.
Saubere Luft zum Atmen ist lebensnotwendig. Dennoch ist sie – insbesondere in Städten – weiterhin mit Schadstoffen belastet. Und auch wenn die Schadstoffbelastung in Deutschland tendenziell abnimmt, so ist Luftverschmutzung doch nach wie vor das größte umweltbedingte Gesundheitsrisiko in Europa. Das Thema wird inzwischen – auch aufgrund der Corona-Pandemie – durchaus mehr wahrgenommen, aber da gibt es weiterhin Luft nach oben, meinen unsere beiden Referentinnen: In unserem fünften Seminar der Reihe bRENNglas Corona-Krise gaben uns Dorothee Saar von der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und Antje Heinrich von Changing Cities Einblicke in ihre Arbeit und ihr Engagement zu dem lebensnahen und lebenswichtigen Thema. Auch wenn es einen langen Atem braucht, zeigen vor allem positive Beispiele, dass es sich lohnt, diesen Weg allen Hindernissen zum Trotz zu gehen und sich für eine bessere Luft für uns alle einzusetzen.
Kurzfristiger Corona-Effekt
Die Luftbelastung und CO2-Emissionen sind im Corona-Jahr 2020 gesunken – aber bringt uns das schon auf den richtigen Pfad einer „schadstofffreien Umwelt“? Diese Frage stellt Dorothee Saar gleich zu Beginn in den Raum. Im Prinzip müssten wir uns aus Klimaschutzgründen nun ein genauso restriktives Jahr wünschen wie 2020, „was natürlich niemand vernünftigerweise machen wird“, so Saar. Und so sei davon auszugehen, dass die Emissionen wieder steigen, sobald die Restriktionen aufgehoben werden, weil während der Pandemie nur bestimmte Bereiche heruntergefahren wurden, aber keine strukturellen Veränderungen vorgenommen wurden.
Luftschadstoffe machen krank
Obwohl wir die Grenzwerte für Luftschadstoffe weitgehend einhalten, haben wir laut Angaben der Europäischen Umweltorganisation über 400.000 vorzeitige Todesfälle in Europa aufgrund der Feinstaubbelastung und mehr als 70.000 aufgrund von Stickstoffdioxid-Belastung. Das zeige: „Die Einhaltung der Grenzwerte heißt nicht, dass wir auf der sicheren Seite sind und einen umfassenden Gesundheitsschutz bieten könnten.“
Aus wissenschaftlicher Sicht gelte: je weniger Luftschadstoffe, desto besser. Das Festlegen von Grenzwerten sei ein politischer Aushandlungsprozess und letzten Endes komme es auch auf die Umsetzung an. Im Moment erfolgt das Aushandeln zu Lasten des Gesundheitsschutzes, konstatiert Saar, und die Einhaltung der Grenzwerte werde nicht wirklich verfolgt – „obwohl wir die technischen Möglichkeiten haben und den volkswirtschaftlichen Nutzen hätten, wenn wir mehr für die Luftqualität tun würden.“
Studien deuteten außerdem darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Luftverschmutzung und schweren Krankheitsverläufen von Covid-19, ergänzt Saar bezüglich der gesundheitlichen Auswirkungen. Das Bewusstsein für eine gesunde Umwelt und gesundes Leben in den Städten habe im letzten Jahr besonders zugenommen – auch weil man weniger „Fluchtmöglichkeiten“ hatte. „Der Umstieg auf Zufußgehen oder das Fahrrad ließ Menschen spüren, dass es schöner ist in einer Umgebung, in der ich nicht von Abgasen überwältigt werde“, so Dorothee Saar.
Grenzwerte als Umsetzungstreiber
In diesem Jahr steht die Überarbeitung der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu Luftschadstoff-Grenzwerten an und die DUH rechnet mit ambitionierteren Vorgaben. Die Grenzwerte seien eine wichtige Grundlage, um u.a. auch über juristische Verfahren für deren Einhaltung und die Umsetzung von Maßnahmen Sorge zu tragen. Es gehe ja nicht nur um Fahrverbote, sondern viele andere Verkehrswendemaßnahmen seien darüber angeregt und in die Luftreinhaltepläne aufgenommen worden: Ausweitung des ÖPNV-Angebots, Radwegeausbau, Tempo-30-Zonen, verkehrsberuhigte Zonen oder die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung. Für den Klageweg brauche es einen langen Atem und er sei alleine auch nicht erfüllend und sinnvoll, folgert Saar. Immerhin konnte die Klagebefugnis inzwischen auf Verbände erweitert werden – es seien nicht mehr nur die betroffenen Anwohner:innen, die ihr Recht einklagen müssen. Und auch aus manchen Städten kämen positive Signale, weil die Klagen den kommunalen Entscheidungsträgern oft auch mehr Handlungsspielraum gäbe.
Dorothee Saar ist der Meinung, dass die Corona-Krise uns zwar eine Verschnaufpause verschafft hat, allerdings zu einem hohen Preis und ohne strukturelle Änderungen, sodass Zurücklehnen keine Option ist. Es brauche eine Verkehrswende, die wir jetzt anpacken, weil viele Maßnahmen einen gewissen Vorlauf bräuchten: unter anderem müssten Flächen im öffentlichen Raum zugunsten von Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr umverteilt, der PKW-Bestand halbiert und der ÖPNV ausgebaut werden. Saar sieht es auch als Aufgabe der DUH, anhand guter Beispiele aufzuzeigen, was möglich sei.
Lebenswerte Städte als Ziel
Von vielen guten Praxisbeispielen konnte auch Antje Heinrich berichten. Ihre Organisation Changing Cities ist 2018 aus dem Volksentscheid Fahrrad in Berlin hervorgegangen, wofür sie damals über 100.000 Unterschriften gesammelt hatten. Damit haben sie in Berlin das erste Mobilitätsgesetz mit angeschoben, das den Senat verpflichtet, nachhaltige Mobilität zu fördern. Ursprünglich radaktivistisch, setze sich Changing Cities nun für „lebenswerte, menschenfreundliche, nachhaltige, sichere und gerechte Städte“ ein – damit einher gehe die Reduktion von Autos, um Platz für Rad, Fuß und ÖPNV zu schaffen, was wiederum für mehr Lebensqualität und Gesundheit sorge.
Projekte von Changing Cities sind z.B. fahrradfreundliche Netzwerke für bessere Radinfrastruktur, Klimastraßen, sogenannte „Kiezblocks“ oder auch die Idee einer „Freie Straßen Prämie“ als Belohnung und Anreiz für nachhaltiges Mobilitätsverhalten.
Verkehrsberuhigte Kiezblocks
Kiezblocks sind verkehrsberuhigte Wohnviertel ohne Durchgangsverkehr. In Berlin gebe es schon über 50 Kiezblocks und sie inspirierten inzwischen auch andere Städte. Die Veränderung der Mobilität greife auch in andere Lebensbereiche ein, z. B. werde Platz geschaffen für Begrünung (= besseres Mikroklima) und Spielplätze. Die Reaktionen der Menschen bewegen sich laut Antje Heinrich bei diesem emotionalen Thema in einem breiten Spektrum – von absoluter Begeisterung bis Morddrohungen: „Es gibt ein paar wenige, die sehr stark dagegen sind, und die sind sehr laut und können oft Probleme bereiten.“ Aber es gebe auch sehr viele, die dafür sind, und letztlich unterstütze Changing Cities nur einen Prozess von unten, den die Menschen im Kiez wollen. „Wenn es erst mal einen Kiezblock gibt, nach ein bis zwei Jahren spätestens, gibt es niemanden, der die Straße davor wieder zurückhaben möchte“, so Heinrich.
Jetzt die richtigen Weichen stellen
Das Corona-Jahr habe den Ausbau von Radwegen enorm beschleunigt, denn die mehr als 22 Kilometer Pop-up Radwege seien dort entstanden, wo ohnehin Radwege geplant waren. Temporäre Spielstraßen und eine autofreie Friedrichstraße seien letztlich auch durch Corona befördert worden. Die langfristigen Effekte von Corona hält Antje Heinrich für schwer zu beurteilen – viele seien wieder aufs Auto umgestiegen, andere aufs Rad. Es müssten nun Maßnahmen ergriffen werden, damit die Menschen ihre Gewohnheiten in die richtige Richtung verändern.
Insgesamt gehe es sehr langsam voran mit den Maßnahmen für nachhaltige Mobilität, findet Heinrich. Das Mobilitätsgesetz müsse nun ernst genommen und umgesetzt werden, dazu brauche es vor allem Finanz- und Personalressourcen für das Thema Mobilität in der Verwaltung. Und auch bundesweit in der Straßenverkehrsordnung und im Straßenverkehrsgesetz müsse der Umweltverbund Fuß-Rad-ÖPNV Vorrang bekommen gegenüber dem Auto, damit auch Kommunen mehr Handlungsspielraum bekommen.
Politischen Druck erhöhen
Es sei schön zu sehen, dass das Verkehrsthema auch politisch immer mehr Aufmerksamkeit bekomme, findet Dorothee Saar. Dennoch brauche es weiterhin politischen Druck. Gerade das Wahljahr 2021 sei ein guter Zeitpunkt, Abgeordnete anzusprechen, damit sie sich für das Thema Luftreinhaltung einsetzen. Oder an kommunale Entscheidungsträger:innen heranzutreten und sich für strukturelle Veränderungen zu engagieren. Oder sich in einer der vielen Initiativen vor Ort für den Wandel einzusetzen – das koste zwar Zeit und Energie, aber es lohne sich, denn auch kleine Veränderungen seien wichtig.
Dorothee Saar wünscht sich zum Abschluss, „dass wir wegkommen von dem Gedanken, wir müssten auf irgendetwas verzichten, hin zu dem Gedanken «wir gewinnen was». Das, was vor uns liegt ist nicht schrecklich, sondern etwas positiv Besetztes, auf das wir uns freuen“. Antje Heinrich kann dem nur beipflichten und ergänzt, dass sie sich außerdem weniger gegeneinander und mehr aufeinander zugehen und an einem Strang ziehen wünscht – denn im Endeffekt wollten wir alle ein gutes Leben und eine schadstofffreie Umwelt.
Das Online-Seminar „bRENNglas Corona-Krise: Wie geht es weiter mit … schadstofffreier Umwelt?“ am 22. April 2021 wurde aufgezeichnet. Den Mitschnitt können Sie sich auf unserem YouTube-Kanal unter diesem Link anschauen: https://youtu.be/cl6lEcjjIJk