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Das 17-Minuten-Interview

© Bernd Reitemeyer

»Die Saatgutvielfalt kann nur durch die Vernetzung möglichst vieler Saatgutvermehrer erhalten werden.«

Bernd Reitemeyer lebt in Uetze bei Hannover. 2014 gründete er »Das Große Freie«.  Die Initiative zur Erhaltung historischer Gemüsesorten ist nach einem im Mittelalter entstandenen kleinen Siedlungsgebiet im Städtedreieck Hannover, Hildesheim und Peine benannt. 

Die Menschen im »Großen Freien« hatten früher besondere Freiheitsrechte, Sie verfügten z. B. frei über ihr Land betrieben freien Handel oder durften ihr Gewerbe frei ausüben »Das Große Freie« ist Programm und Lebensphilosophie des 49-jährigen Bauingenieurs.

Bernd Reitemeyer´s Lieblingsrezepte mit vergessenen Gemüsesorten?

Am liebsten sind mir leichte Gerichte aus der mediterranen Küche mit frischem Gemüse, wie z. B. Zucchini, Tomate, Paprika oder Peperoni. Wenn möglich aus dem eigenen Garten.

Wie funktioniert das Storytelling für verbotene Gemüsesorten?

In den Ausstellungen erfahren die Besucher hauptsächlich etwas über die Herkunft und die Geschichte der einzelnen Sorten. Ich schreibe vor allem über Gemüsesorten, die es nicht oder nicht mehr auf dem Markt zu kaufen gibt und möchte dabei auf den Sorten- undVielfaltsverlust aufmerksam machen. Die meisten Sorten sind in der Regel akut vom Aussterben bedroht. Manchmal schwingt bei den Geschichten eine Botschaft mit, die auch gesellschaftskritisch sein kann. Wenn ich z. B. von uralten Maissorten berichte, die zugunsten der Gentechnik verdrängt wurden oder von Tomatensorten verschwundener indigener Stämme, dann soll das natürlich auch zum Nachdenken bzgl. unserer modernen Kultur und Wirtschaftsweise anregen. Als Informationsquelle dienen mir z. B. historische Gartenbücher oder das Internet, aber auch auf Saatgutbörsen erfährt man viel über die dort angebotenen alten Sorten. Da ich vor allem in Bibliotheken meine Ausstellungen zeige, kann ich bei der Gelegenheit immer nach Fachliteratur suchen. Aber auch in verschiedenen Archiven, wie z. B. dem Stadtarchiv Hannover habe ich schon einiges gefunden.

© Bernd Reitemeyer
Was war das Initial für das Interesse an altem Saatgut?

Ich war viele Jahre ehrenamtliches Mitglied im Regionalmuseum Sehnde, das sich ca. 30 km östlich von Hannover befindet. Das Museum beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte des »Großen Freien«, das ist eine historische Gebietseinheit, dessen Geschichte bis ins frühe Mittelalter zurückreicht und in dem die Menschen damals besondere Freiheitsrechte besaßen. 

An dem Ort des Museums befand sich aber in der Nachkriegszeit auch die Zentrale des Bundessortenamts, über dessen Geschichte ich vor einigen Jahren eine Ausstellung konzipiert habe. Bei dieser Arbeit habe ich sehr viel über Saatgut die Geschichte des Sortenwesens und der Pflanzenzucht in Deutschland erfahren.

Warum geben Sie dem »Roten Heinz« und der »Hildesheimer Stangenbohne« eine Stimme?

Ich war 2012 auf einer Saatgutbörse in Hannover, die vom »Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt« veranstaltet wurde. Dort bin ich zum ersten Mal in Kontakt geraten zualten Gemüsesorten und habe auch den »Roten Heinz« kennengelernt. Das ist eine alte Tomatensorte aus Hannover, die schon im zweiten Weltkrieg angebaut wurde und hier scheinbar sehr verbreitet war.   Ein Gärtner aus Hannover hat das Saatgut vom »Roten Heinz« über viele Jahre durch Vermehrung am Leben gehalten. Im Alter hatte er das Saatgut seinem Sohn gegeben, der es später an den BUND weitergab. So konnte der »Roten Heinz« gerettet werden, nur weil ein einzelner Mensch sich jahrelang darum gekümmert hat. Sonst hätte sich heute kein Mensch mehr an diese Sorte erinnern können. Die Geschichte hat mich neugierig gemacht und ich fragte mich, ob es vielleicht noch anderer solcher regionalen Sorten gibt, die überlebt haben. Ich fand später noch die »Hildesheimer Stangenbohne«, die seit den 1930er Jahren in einer Saatgutbank lagerte. Viel mehr als diese beiden Sorten konnte ich für meine Region allerdings nicht finden.

© Bernd Reitemeyer
Wie viele Sorten sind denn schon verloren gegangen?

Präzise Zahlen gibt es dazu nicht. Schätzungen zufolge sind wahrscheinlich bis zu 80 Prozent aller Nutzpflanzensorten bereits verschwunden. Die meisten Gemüsesorten waren bis vor ca. 100 Jahren nicht registriert. Viele Sorten wurden auf den Höfen von einer auf die nächsteGeneration übergeben. Diese alten Landsorten tauchten nicht in Büchern auf und viele Bauernkonnten auch nicht schreiben. Solchen Kulturpflanzen wurde von staatlicher Seite vermutlich kein hoher Wert beigemessen. Im Gegensatz zu Handelssorten, die von professionellen Züchtern entwickelt wurden, um damit Geld zu verdienen. Diese wurden registriert undtauchen in alten Saatgutkatalogen auf, sofern diese noch vorhanden sind. Bis ins 19.Jahrhundert hinein gab es praktisch keinen nennenswerten professionellen Saatguthandel.Anders als heute war Saatgut kein Produkt, mit dem sich viel Geld verdienen ließ, sondern es war eher ein Tauschprodukt. Durch den Tausch und die regionale Begrenztheit der Bauern entstand aber über die Jahrhunderte eine riesige Vielfalt an Sorten.  Als im 20. Jahrhundert die Industrialisierung auch die Landwirtschaft erfasste, wurde diese Vielfalt für die Landwirte eher zum Hindernis, da Felder immer größer wurden und die Erträge immer schneller steigen mussten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Außerdem wurde die Sortenvielfalt zunehmend als chaotisch wahrgenommen. Viele Sorten waren kaum unterscheidbar, zum Teil gab es auch gleiche Sorten mit unterschiedlichen Namen. Den Wertder Vielfalt hat man damals wahrscheinlich nicht erkannt. Gemüsesaatgut war etwasAlltägliches, was jeder in seinem Garten genutzt hat. Niemand hat sich die Mühe gemacht,alles aufzuschreiben. Erst in den letzten Jahrzehnten, im Zuge der Ökobewegung, beginnt sich langsam wieder ein Bewusstsein für den Wert der Vielfalt zu entwickeln und man versucht zu retten, was noch zu retten ist.

Haben Sie ein Beispiel?

Grünkohl ist ein schönes Beispiel. Besonders in ostfriesischen Gärten werden immer noch alte Sorten gefunden, die von einzelnen Privatgärtnern am Leben gehalten werden. Diese sind oft schon sehr alt und haben das Saatgut vor langer Zeit von ihren Eltern erhalten. Wenn die Menschen sterben, verschwindet mit ihnen oft auch die Sorte. In Ostfriesland sind Mitglieder des »Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt« seit vielen Jahren unterwegs und haben schon einige solcher Grünkohlsorten gefunden.

Wie kommt die Geschichte ins Spiel?

Als ich die Ausstellung über die Geschichte des Bundessortenamts vorbereitet habe, stieß ich auf viele alte Bücher zum Thema Saatgut und Pflanzenzucht. Außerdem hatte ich als Student früher im Sortenamt gejobbt, so dass ich schon einen Bezug zu dem Thema hatte.  Das Sortenamt ist so etwas wie ein Patentamt für Pflanzen. Neu gezüchtete Sorten, die man auf den Markt bringen will, müssen dort angemeldet und zugelassen werden. Sie werden von der Behörde dann mehrere Jahre angebaut und auf verschiedenste Eigenschaften wie z. B. Unterscheidbarkeit von anderen Sorten, Homogenität oder Beständigkeit hin geprüft. Seinen Ursprung hat das Sortenamt in den 1930er-Jahren, als das Saatgutwesen in Deutschland von staatlicher Seite stark reguliert wurde. Die Maßnahmen damals haben die Landwirtschaft bis heute nachhaltig verändert und galten als sehr fortschrittlich und modern. Später übernahmen auch viele andere Länder weltweit solche Maßnahmen und sogar das heutige europäische Saatgutrecht wurde stark davon beeinflusst.

Weshalb hat die Ausstellung den Titel »Verbotenes Gemüse«?

Natürlich ist es nicht verboten, alte Sorten im eigenen Garten anzubauen, das Saatgut mit seinen Nachbarn zu tauschen oder es auf Saatgutbörsen anzubieten, solange es sich um kleine Saatgutmengen handelt. In größerem Stil darf mit nicht zugelassenem Saatgut allerdings kein Handel betrieben werden. Für den Handel mit Saatgut gibt es das Saatgutverkehrsgesetz. Dieses gibt vor welche Sorten in Umlauf gebracht werden dürfen und das sind fast ausschließlich moderne Handelssorten, mit denen Saatzuchtbetriebe viel Geld verdienen. Alte Sorten, die zum Allgemeingut gehören und auf keiner Sortenliste mehr stehen lassen sich in eine solche Gesetzgebung schwer integrieren. Zwar können seit ein paar Jahren auch sogenannte »Erhaltungs-« oder »Amateursorten« angemeldet werden, da das Gesetz aber ursprünglich geschrieben wurde, um gerade solche Sorten zu verbieten, kann das nicht funktionieren.   

Warum wurden Saatgutgesetze eingeführt?

Etwa um 1900 begann man Sorten miteinander zu verkreuzen, mit dieser Technik konntenschnell »höherwertige«, ertragreichere Sorten gezüchtet werden sogenannteHochzuchtsorten. Es entstanden Pflanzenzuchtbetriebe, die viel Geld in große Zuchtprogramme steckten. Als diese neuen Sorten in den 1920er-Jahren auf den Markt kamen, konnte sie sich aber kaum jemand leisten. Die Bauern vertrauten lieber ihren bewährten Landsorten, sodass die Saatzuchtbetriebe auf ihren neuen Sorten sitzen blieben, in Finanznot gerieten und viele sogar schließen mussten.  Etwa um 1900 begann man Sorten miteinander zu verkreuzen, mit dieser Technik konntenschnell »höherwertige«, ertragreichere Sorten gezüchtet werden sogenannteHochzuchtsorten. Es entstanden Pflanzenzuchtbetriebe, die viel Geld in große Zuchtprogramme steckten. Als diese neuen Sorten in den 1920er-Jahren auf den Markt kamen, konnte sie sich aber kaum jemand leisten. Die Bauern vertrauten lieber ihren bewährten Landsorten, sodass die Saatzuchtbetriebe auf ihren neuen Sorten sitzen blieben, in Finanznot gerieten und viele sogar schließen mussten. In den 1930er-Jahren erfolgte eine komplette Neustrukturierung des deutschen Saatgutwesens. Durch eine flächendeckende Verwendung von Hochzuchtsorten sollten die Erträge in der Landwirtschaft erhöht werden. Mit der »Verordnung über Saatgut« von 1934 wurden über drei Viertel aller auf dem Markt befindlichen Sorten verboten. Der Vertrieb von Saatgut durfte fortan nur noch von privaten Saatzuchtunternehmen oder lizenzpflichtigen Vermehrungsstellen erfolgen, die damit praktisch eine Monopolstellung erhielten. Die finanziellen Sorgen der privaten Saatgutwirtschaft endeten abrupt und besonders die großen Saatzuchtbetriebe entwickelten sich schnell zu florierenden Wirtschaftsunternehmen. Die bis dahin vorherrschende Vielfalt auf den Feldern wurde von den Nazis verächtlich als »Sorten-Wirrwarr« bezeichnet und die Maßnahmen im Zuge des neuen Saatgutgesetzes nannte man »Sortenbereinigung«, die allerdings eher einer Sortenvernichtung gleichkam. An dem Vokabular lassen sich natürlich auch ideologische Motive erkennen.

Bohnenprüfung in den 1950er Jahren © Bernd Reitemeyer
Wie ging es nach dem Krieg weiter?

Die Saatgutverordnung von 1934 wurde in beiden Teilen Deutschlands weitgehend übernommen und war die Grundlage für weiterführende Saatgutgesetze. An dem Prinzip der zulassungspflichtigen Sorten wurde festgehalten. Landwirte dürfen bis heute nicht frei bestimmen, welche Sorten sie auf ihren Feldern anbauen. Unmittelbar nach dem Krieg kam es in Deutschland zu großen Versorgungsengpässen durch die Reduzierung der Sorten erhoffte man sich eine Steigerung der Erträge. In den 50er-Jahren schritt dann auch die Motorisierung auf den Feldern voran für die möglichst gleichförmige und einheitlich abreifende Pflanzen praktischer waren. Für die Industrialisierung der Landwirtschaft und der gesamten Lebensmittelproduktion schien eine strenge Reglementierung der Nutzpflanzensorten unentberlich zu sein.

Gehen pflanzengenetische Ressourcen verloren?

Die Vielfalt unseres Saatguts, das unsere Vorfahren über Generationen hinweg geschaffen haben, ist für uns überlebensnotwendig und darf nicht ökonomischen Interessen geopfert werden. Wir müssen diese pflanzengenetischen Ressourcen unbedingt erhalten, um damitwieder neue, anpassungsfähige Pflanzen züchten zu können. Gerade in Zeiten des Klimawandels und sich ändernder Umweltbedingungen ist das von zentraler Bedeutung. Diese Aufgabe darf nicht den wenigen Konzernen überlassen werden, denen es letztlich nur um Profitsteigerung geht. Sortenzüchtung muss wieder zurück auf die Felder und die Gärten, so wie es über Jahrtausende hinweg immer war.  Besonders dramatisch ist die Entwicklung in vielen Ländern Afrikas oder Südamerikas, wo vielerorts noch gesunde, kleinbäuerliche Strukturen vorherrschen und es eine große Nutzpflanzenvielfalt gibt. Die bisher weitgehend unabhängigen Kleinbauern geraten immer mehr in den Sog globaler Marktstrukturen. Die Agrarkonzerne erschließen dort mit dem Verkauf von Saatgut, Dünger oder Pflanzenschutzmittel riesige, neue Wachstumsmärkte. Die Kleinbauern verwenden dann nicht mehr das selbstgewonnene Saatgut ihrer traditionellen Sorten und werden dadurch abhängig von gekauftem Saatgut, was sie häufig in die Schuldenfalle führt. 

Wie die Besucherzahlen der Saatgutbörse zeigen, ist das Interesse an dem Thema groß. Werden wir in Zukunft wieder alle zu Selbstversorgern?

Das glaube ich nicht. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn wir uns wieder zum Teil selbst versorgen. Wenn man beginnt, seinen Garten naturnah zu gestalten oder wieder regional-angepasste Pflanzen anbaut und das Saatgut selbst vermehrt. Der Bezug zureigenen Identität und zu regionalen Strukturen könnten Motor sein. Saatgut hat einengroßen Symbolcharakter. Unsere ganze Kultur, unsere ganze Landwirtschaft hängt am Saatgut. Erst durch die Beherrschung des Saatguts konnten die Menschen sesshaft werden. Vorher waren wir Jäger und Sammler.

Wer besucht Ihre Ausstellung?

Meine Ausstellungen werden von unterschiedlichsten Menschen besucht. Ich bekomme sehrviel Zuspruch und positives Feedback. Viele sind auch verwundert, wenn sie zum ersten Mal von solchen Sorten erfahren, so wie ich es vor zehn Jahren war. Das ist auch der Grund,warum ich mit den Ausstellungen gerne in Bibliotheken zu Gast bin. Dort trifft man alle.Nicht nur die Hobbygärtnerin oder den Hobbygärtner, wie es meistens auf den Saatgutbörsen der Fall ist.

Wie hat sich das Projekt weiterentwickelt?

Vor zwei Jahren trat die niedersächsische Büchereizentrale an mich heran, die ihren Sitz in Lüneburg hat. Sie beauftragte mich, ein Konzept für die Einrichtung von Saatgutbibliotheken zuentwickeln. So entstand eine Kooperation mit dem VEN, dem »Verein zur Erhaltung derNutzpflanzenvielfalt e. V. «, der seitdem das ganze Projekt organisiert und verwaltet. Mittlerweile beteiligen sich über hundert Bibliotheken bundesweit daran. Meine Aufgabe ist es, die Geschichten zu den einzelnen Sorten zu schreiben und die Holzkisten zur Verfügung zu stellen. Das Saatgut kommt von Mitgliedern des VEN.

Kann man die Saatgutkisten auch selbst herstellen? Wie kam es zu der Bauanleitung?

Im letzten Jahr sind wir in Niedersachsen mit 30 Bibliotheken gestartet. Die Kisten habe ich alle selbst gebaut. Da es aber schnell immer mehr Bibliotheken wurden, kam die Idee, eineBauanleitung zur Verfügung zu stellen. Einige Bibliotheken haben davon Gebrauch gemacht, andere haben sich aber auch eigene Kisten gebaut.

© Bernd Reitemeyer
Was ist der Unterschied zwischen einer Saatgut- Tauschkiste und einer Saatgut-Leihkiste?

Saatgut-Tauschkisten finden sich schon seit längerer Zeit an den unterschiedlichsten Orten. Nutzer können dort selbst geerntetes oder anderes Saatgut hineinlegen und sich dafür ein anderes Saatgutpäckchen nehmen, welches von anderen Nutzern dort hinterlegt wurde. Für Tauschkästen gelten meist keine besonderen Regeln, sodass sie nach längerer Zeit eher den Charme einer bunten Sammelkiste bekommen. 


Für die Leihkisten der teilnehmenden Bibliotheken hingegen gelten bestimmte Regeln. Die Saatgut-Päckchen werden wie Bücher ausgeliehen und müssen nach spätestens neun Monaten wieder zurückgegeben werden. Die Päckchen sind wie Bücher mit einem Barcode versehen und werden beim Ausleihen gescannt. 

Die Teilnehmer sind angehalten, spätestens nach neun Monaten wieder selbst geerntetesSaatgut zurückzubringen und in die Kiste zu stellen. In den ausgeliehenen, mit Saatgut befüllten Tütchen, befinden sich weitere leere Tütchen. Diese können für das neu geerntete Saatgut verwendet werden. Auf diese Weise behält die Bibliothek die Kontrolle über den Verbleib des angebotenen Saatguts und muss im Idealfall nicht jedes Jahr wieder neues Saatgut erwerben. 

Für den Start des Projektes wurden fünf Gemüsearten ausgewählt, die relativ einfach zuvermehren sind: Tomaten, Salat, Bohnen, Erbsen und Gartenmelde. Anspruchsvollere Arten und solche, die sich leicht verkreuzen können, wie z. B. Mais oder Kürbisse wurden nicht angeboten. Das Projekt ist also vor allem für Neueinsteiger gedacht, die noch keine Erfahrung mit »dem Saatguternten« haben.Das Konzept wurde bisher sehr gut angenommen. Besonders für den VEN, der das Saatgut bereitstellt, ist es aber auch eine logistische Herausforderung, denn der Verein besitzt kein zentrales Saatgutlager. Das Saatgut wird von den bundesweiten, gut vernetzten VEN-Mitgliedern erzeugt und per Post an die einzelnen Bibliotheken gesendet. Ob das Konzeptzukunftsfähig ist, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Das hängt auch davon ab, ob es gelingt, weiterhin Fördergelder dafür zu bekommen. 

Die Idee mit der Saatgut-Ausleihe stammt übrigens von einer Frau aus Schleswig-Holstein.Diese ist in einer Bibliothek beschäftigt und gleichzeitig Mitglied im VEN. In Schleswig-Holstein gibt es mobile Bibliotheken-Busse, die im ganzen Bundesland herumfahren. Hierwurde das Konzept zum ersten Mal ausprobiert. Der VEN hat die Idee dann aufNiedersachsen ausgeweitet und bietet es inzwischen bundesweit an. Nach einem Jahr können wir sagen, dass es funktioniert. Die Tütchen kommen zum großen Teil wieder aufgefülltzurück. So entsteht ein Kreislauf und die Kisten müssen nur hin und wieder von den Bibliotheken aufgefüllt werden. 

Es soll von allein laufen. Das ist die Hoffnung. 

Viele Bibliotheken greifen das Thema gerne auf, vielleicht auch, weil Saatgut sich nicht digitalisieren lässt? Die meisten Bücher sind mittlerweile digital verfügbar, was für Bibliotheken vielleicht auch irgendwann zur Bedrohung werden könnte. Das wäre auf jeden Fall sehr schade, denn Bibliotheken sind ja nicht nur Bücherlager, sondern vor allem auch kulturelle Begegnungsstätten.

Das hört sich sehr umfangreich für eine ehrenamtliche Tätigkeit an. Wenn Sie könnten, wie sie wollten …

.. würde ich mein Hobby zum Beruf machen. Leider ist es schwierig, damit seinen Unterhalt zu bestreiten, auch deshalb, weil mit dem Saatgut historischer Sorten per Gesetz kein Geld verdient werden darf. Es wird wahrscheinlich noch für längere Zeit ein Hobby bleiben.

Was würden Sie verändern?

Das Saatgutgesetz müsste gelockert werden, damit die alten Sorten aus der Halblegalität herauskommen und auf den Feldern und in den Gärten wieder mehr Vielfalt einkehren kann. Saatgut sollte nicht allzu sehr reguliert werden und den Landwirten sollte freigestellt werden,welches Saatgut sie auf ihren Feldern säen. Etwas mehr Geschichtsbewusstsein wäre wahrscheinlich gut. Am Beispiel des Saatguts lässt sich gut verdeutlichen, wie sich in den letzten hundert Jahren vieles in eine falsche Richtung entwickelt hat. Vielleicht hat uns der Fortschrittsglaube blind gemacht für Dinge, die sich über viele Jahrhunderte hinweg bewährt hatten und nachhaltig waren. Vor allem der Nahrungsmittelkonsum in den Industrieländern und alle Produktionsprozesse, die damit zusammenhängen, müssten sich wieder ein ganzes Stück zurückentwickeln, das heißt regionaler, vielfältiger und nachhaltiger werden. Interessanterweise nennen wir viele Länder immer noch »Entwicklungsländer«, dabei gehört unser Land vermutlich zu denen, die den größten Entwicklungsbedarf haben.  

Leider wird vieles noch immer nach seinem Geldwert bemessen, dabei lassen sich viele Dinge nicht monetär bewerten, wie z. B. eine intakte Umwelt oder das Klima, aber auch die Saatgutvielfalt gehört dazu. Saatgut ist eines unserer wichtigsten Kulturgüter und besitzt zudem eine starke Symbolkraft. Wir erhalten es aus der Vergangenheit, leben davon in der Gegenwart und bewahren es für die Zukunft. Was unsere Vorfahren in vielen Jahrhunderten geschaffen haben, dürfen wir nicht innerhalb von zwei oder drei Generationen verschwinden lassen, das gehört zu unserer kollektiven Verantwortung.  

Das letzte Wort:

Hat meistens jemand anderes ... Susanne Klaar, RENN.nord Öffentlichkeitsarbeit, führte das Interview am 5. März 2023, um mehr darüber zu erfahren, was Bernd Reitemeyer bewegt und antreibt, welche Rolle gute Vernetzung für ihn spielt. 

»Beim Saatgut wird deutlich, dass alles miteinander vernetzt ist.«

Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

 

Röstmais Glass Gem Corn © Bernd Reitemeyer
Ausstellung »Verbotenes Gemüse« in der Marienkirche Ribnitz

Vom 19. März bis 15. April 2023 präsentieren die Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN.nord) in der Marienkirche in Ribnitz die, von Bernd Reitemeyer konzipierte, Sonderausstellung »Verbotenes Gemüse –historische und regionale Gemüsesorten«. 

Wo
Ev.-Luth. Kirchengemeinde Ribnitz
Neue Klosterstraße 17
18311 Ribnitz-Damgarten 

Wann
19. März bis 15. April 2023
Montag bis Freitag I 10:00 bis 16:00 Uhr

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