Interview: Was steckt hinter unserem Transformationsprojekt „Autofreie Siedlung“?
Zehn Projekte wurden von uns im Wettbewerb „Projekt Nachhaltigkeit“ prämiert, eins davon erhielt eine besondere Ehrung: Die autofreie Siedlung „Stellwerk60“ wurde als Transformationsprojekt ausgezeichnet. Wie es sich dort lebt, wie das Konzept bundesweite Transformation antreiben kann und warum die Zukunft der Siedlung „autofrei“ sein muss, erklärt uns Hans-Georg Kleinmann vom Verein „Nachbarn60“ im Gespräch.
Stellwerk60 ist mit 440 Wohneinheiten und 1550 Bewohner*innen eine der größten autofreien Siedlungen Deutschlands. Der Anstoß kam durch eine Bürgerinitiative aus dem Jahr 1994. 2006 wurden die ersten Wohnungen bezogen, die komplette Fertigstellung erfolgte 2013. Die wenigen Autos, die die Bewohner*innen besitzen, parken in einer ausgelagerten Quartiersgarage, die je nach Bedarf wachsen und schrumpfen kann. Es gibt Sharing-Angebote für Fahrzeuge und Materialien. Bei der Verleihung der Auszeichnung lobte Laudatorin Dr. Dorothea Schostock vom Umweltministerium NRW die Idee, weil sie "besonders wirksam ist, wenn sie auf viele andere Quartiere und Regionen übertragen wird".
Herr Kleinmann, seit wann wohnen Sie autofrei?
Ich wohne seit 2007 in der autofreien Siedlung. Bereits einige Jahre vorher hatte ich das eigene Auto verkauft. In die autofreie Siedlung bin ich gemeinsam mit meiner Familie gezogen, weil mich das Projekt sehr interessiert und auch fasziniert hat, quasi „Wohnen im Zukunftslabor“.
Was verändert sich, wenn man eine Siedlung für Menschen (und nicht für den Autoverkehr) baut?
Die Kommunikation mit den Mitbewohner*innen ist einfacher, schon alleine weil man sich häufiger draußen aufhält und dort mehr Leute trifft. Die Straße wird zu einem attraktiven Aufenthaltsort, vor allem für die Kinder, aber auch für Erwachsene.
Aus ihrer Erfahrung: Welche positiven Effekte stellen die Bewohner*innen einer autofreien Siedlung fest?
Am stärksten verändert sich das Mobilitätsverhalten: Bei vielen neuen Bewohner*innen kann man feststellen, dass sie nach einer gewissen Eingewöhnungsphase zunehmend auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes zurückgreifen, in erster Linie auf das Fahrrad und auf das Zu-Fuß-Gehen. Der Nahbereich rückt stärker in den Fokus, sei es beim Einkauf oder auch in der Freizeit. Die Stadt der kurzen Wege wird dadurch gefordert und gefördert.
Von der ersten Bürgerinitiative bis zur Fertigstellung sind fast 20 Jahre vergangen - welche Hürden gab es bei der Gestaltung der Siedlung als autofreie Zone?
Es war sehr schwierig, die Stadtverwaltung, die Politik, die Bauträger und die Investoren von einer solchen Idee zu überzeugen und die erforderliche Mehrheit dafür zu erhalten. Es gab dort große Zweifel, ob man überhaupt genügend Mieter oder Käufer finden würde. Das ist zwar in den letzten Jahren in einigen Kommunen etwas besser geworden, aber die Vorbehalte überwiegen noch immer. Vor allem viele Entscheider, deren Lebensweise häufig sehr autointensiv ist, können sich nicht vorstellen, dass man ohne eigenes Auto durchaus angenehm leben kann.
Viele Siedlungen sind schon gebaut – welche Ideen aus Stellwerk60 können bestehende Quartiere dennoch übernehmen und umsetzen?
Bestehende Siedlungen sollten zumindest stark verkehrsberuhigt werden; in manchen Städten werden temporäre Spielstraßen ausprobiert, wo eine Straße an manchen Tagen für ein paar Stunden gesperrt wird. Gleichzeitig sollte die Fuß- und Fahrradinfrastruktur ausgebaut werden, vor allem durch ausreichend dimensionierte Fahrradabstellanlagen sowie durch Sitzbänke für Fußgänger. Eine Mobilitätsstation, welche Karren, Fahrradanhänger und weitere Transportmittel für die Bewohner*innen bereithält, kann durchaus auch in einer normalen Garage angesiedelt werden. Ein gutes Carsharing-Angebot sollte eingeführt werden – so kann manches Zweit- oder Drittauto abgeschafft werden.
Was meinen Sie: Warum sind autofreie Siedlungen oder ausgelagerte Quartiersgaragen nicht schon längst Standard?
Beim autofreien Innenraum überwiegen immer noch die Befürchtungen, dass diese Idee bereits im Vorfeld von der Stadtverwaltung und der Politik negativ beschieden wird oder ob solch ein Angebot überhaupt vermarktbar ist. Bei vielen Entscheidern gilt noch immer das Auto vor der Haustüre als wichtig und unverzichtbar, auch wenn da mittlerweile ein zaghaftes Umdenken eingesetzt hat. So langsam wird manchem klar, dass die Autos den öffentlichen Raum zum Teil beachtlich entwerten – zu Lasten der Aufenthaltsqualität. Weil jedoch diese Entwertung den Normalfall in unseren Städten darstellt, wird sie von den meisten nicht negativ wahrgenommen. Die Gewohnheit hat da leider den Blick verändert.
Stellen wir uns vor: Es ist das Jahr 2030 und die globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen wurden erfüllt. Wie sehen die Siedlungen in dieser Welt aus? Und wie die Mobilität?
Der Bau von Neubausiedlungen und das Bewusstsein der Mieter und Käufer wird sich in den nächsten Jahren stark ändern, so dass es wesentlich mehr Siedlungen nach dem Konzept der autofreien Siedlung geben wird – in der Schweiz kann man einen beginnenden Trend bereits beobachten. Die Klimadebatte wird ein Umdenken begünstigen: Weniger Flächenverbrauch, weniger Versiegelung, mehr Bäume und mehr Grün, auch mit kleineren Wasserstellen.
Auch bei den bestehenden Siedlungen wird sich etwas in dieser Richtung ändern; es wird aber ungleich schwieriger, weil die meisten Siedlungen ja so gebaut wurden, dass die Autoinfrastruktur dominiert und nicht einfach zurückgebaut werden kann, man denke da nur an die PKW-Tiefgaragen oder auch an die Car-Ports bei den Einfamilienhäusern. Aber trotzdem wird es mehr und bessere Fahrradabstellanlagen geben und auch das Carsharing wird dort langsam Fuß fassen.
Die Mobilität wird sich weniger ressourcen-verbrauchend entwickeln: „small is beautiful“ bzw. „die Rückkehr zum menschlichen Maß“. Vor allem der Fahrradanteil wird sich noch stark erhöhen, sobald es gute und sichere Fahrradverbindungen in akzeptabler Netzdichte geben wird. Auch das Sharing wird sich von seinem heutigen Nischendasein befreien, sei es durch Car-Sharing oder durch Ride-Sharing.
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